Der Tag, an dem eine Nation erschüttert wurde
Am Mittag des 22. November 1963 herrschte in Dallas ausgelassene Stimmung. Tausende säumten die Straßen, als Präsident John F. Kennedy mit offenem Verdeck durch die Innenstadt fuhr. Neben ihm strahlte First Lady Jacqueline Kennedy – beide ahnten nicht, dass sie Minuten später Teil eines der schockierendsten Augenblicke des 20. Jahrhunderts sein würden. Unweit der Strecke, im sechsten Stock des Texas School Book Depository, lauerte Lee Harvey Oswald mit einem italienischen Mannlicher-Carcano-Gewehr
Genau um 12:30 Uhr hallten Schüsse durch Dealey Plaza. Kennedy wurde getroffen und brach zusammen; sein Wagen raste zum Parkland-Krankenhaus, doch um 13:00 Uhr wurde er für tot erklärt
In diesen Sekunden – eingefroren im Zapruder-Film – veränderte sich Amerika für immer.
Chronologie der Ereignisse und erste Reaktionen
Was danach geschah, wirkte wie ein dunkler Albtraum: Innerhalb von 90 Minuten wurde Oswald verhaftet, nachdem er einen Polizisten erschossen hatte, der ihn zufällig aufgriff. Zwei Tage später jedoch – die Kameras liefen live – trat Nachtclubbesitzer Jack Ruby auf den Plan und erschoss Oswald im Keller des Polizeihauptquartiers. Diese ikonische Szene, festgehalten in einem preisgekrönten Foto, ließ das Publikum erneut erschaudern. Noch auf dem Rückflug nach Washington legte Lyndon B. Johnson an Bord der Air Force One den Amtseid als neuer Präsident ab, Jacqueline Kennedy an seiner Seite. In Dallas begann der Tatort Dealey Plaza indes, als düsteres Pilgerziel in die Geschichte einzugehen. Die „Grassy Knoll“ – jener grasbewachsene Hügel am Rand – sollte schon bald zum Zentrum endloser Spekulationen werden.
Offizielle Untersuchungen: Warren-Kommission und Kongress
Präsident Johnson setzte umgehend eine Kommission unter Leitung von Chief Justice Earl Warren ein, um das Verbrechen zu untersuchen. Die Warren-Kommission – eine Gruppe hochkarätiger Persönlichkeiten – arbeitete zehn Monate lang akribisch Zeugenbefragungen, ballistische Analysen und Geheimdienstberichte durch. Ihr Ergebnis war eindeutig: Oswald, ein 24-jähriger Ex-Marine und Kommunist, habe alleine gehandelt; es gebe keinerlei Beweise für eine Verschwörung
Als Warren und seine Kollegen am 24. September 1964 ihren Bericht feierlich Präsident Johnson überreichten, hofften viele, dies würde die Nation befrieden. Doch das Gegenteil trat ein: Das öffentliche Misstrauen blieb. Kritik entzündete sich etwa an der „Magic Bullet“-Theorie, welche erklären sollte, wie eine einzige Kugel sowohl Kennedy als auch den mitfahrenden Gouverneur John Connally traf. Sogar Johnson äußerte privat Zweifel, ob nicht doch mehrere Schützen im Spiel waren.
Ende der 1970er Jahre griff das Repräsentantenhaus das Thema nochmals auf. Der neu eingerichtete House Select Committee on Assassinations (HSCA) untersuchte neben JFKs auch Martin Luther Kings Ermordung. 1979 sorgte das HSCA für Aufsehen: Basierend auf akustischen Analysen einer Polizeifunkaufnahme glaubte es Hinweise auf einen zweiten Schützen gefunden zu haben. In ihrem Abschlussbericht erklärte das Gremium, Kennedys Tod sei „wahrscheinlich das Ergebnis einer Verschwörung“ – eine bemerkenswerte Abweichung vom Warren-Urteil. Allerdings blieb unklar, wer dahintergesteckt haben könnte. Selbst die vermeintlichen Audio-Beweise waren umstritten: 1982 widersprach die National Academy of Sciences und hielt die Geräusche nicht für Schüsse. Dennoch: Die Zweifel an der Alleintäterschaft ließen sich nie mehr einfangen.

Die Mitglieder der Warren-Kommission überreichen Präsident Lyndon B. Johnson ihren Abschlussbericht zum Kennedy-Attentat (September 1964). Trotz umfangreicher Ermittlungen blieben Verschwörungsgerüchte lebendig.
Der mutmassliche Täter: Oswalds rätselhafte Vorgeschichte
Wer war Lee Harvey Oswald, und was trieb ihn an? Oswalds Lebenslauf liest sich wie ein Spiegelbild des Kalten Krieges: Aufgewachsen im Süden der USA, Ex-Marine, überzeugter Marxist – 1959 lief er tatsächlich in die Sowjetunion über. Später kehrte er mit seiner russischen Ehefrau Marina nach Texas zurück. 1963 fiel er in New Orleans als lautstarker Unterstützer Fidel Castros auf, verteilt Flugblätter für ein „Fair Play for Cuba“-Komitee. Nur wenige Wochen vor dem Attentat reiste Oswald nach Mexiko-Stadt, um Visa für Kuba und die UdSSR zu beantragen. FBI-Dokumente, die erst Jahrzehnte später veröffentlicht wurden, bestätigen diese Besuche in kubanischen und sowjetischen Einrichtungen. Dass der Geheimdienst Oswald so nah beobachtete, nährte später Spekulationen: Hätte das Attentat verhindert werden können? In den neuesten freigegebenen Akten zeigen sich tatsächlich schwere Geheimdienst-Pannen: Die CIA und FBI hatten Informationen über Oswalds Wirken – sogar Warnungen – jedoch wurden diese Berichte nicht konsequent geteilt. Einige dieser Erkenntnisse wurden der Warren-Kommission damals vorenthalten. So reimte sich ein Bild zusammen: Oswald als tickende Zeitbombe, die von den Behörden unterschätzt wurde.
Motive im Fadenkreuz: Wem nützte Kennedys Tod?
Kaum war die erste Schockstarre überwunden, fragten sich die Menschen: Könnte wirklich ein einzelner Verwirrter den mächtigsten Mann der Welt getötet haben? Oder steckte mehr dahinter? Bald machten diverse Theorien die Runde – manche wirkten plausibel, andere klangen wie einem Spionageroman entsprungen:
- Die „zweite Schütze“-Theorie: Viele Augenzeugen meinten, Schüsse vom berüchtigten Grashügel – dem Grassy Knoll – gehört zu haben. Und tatsächlich: Das HSCA identifizierte einen möglichen vierten Schuss, der von vorne gekommen sein könnte. Auch das berühmte Zapruder-Filmmaterial wird oft so interpretiert, als ob eine Kugel Kennedys Kopf von vorn trifft. Bis heute hat sich aber kein eindeutiger zweiter Schütze manifestiert – der Hügel bleibt ein Symbol ungelöster Rätsel.
- Fidel Castro und Kuba: Kennedy hatte die Invasion in der Schweinebucht und etliche CIA-Mordkomplotte gegen Castro zu verantworten. Hatte der kubanische Revolutionsführer im Gegenzug einen Mordauftrag erteilt? Castro selbst stritt dies vehement ab; in einem heimlichen Gespräch mit einem Warren-Emissär beteuerte er Kubas Unschuld. Dennoch: Zwei Monate vor der Tat hatte Castro gewarnt, US-Führer seien nicht sicher, wenn sie weiter Kubas Sturz betrieben. Oswalds Sympathien für Castro und sein Besuch in der kubanischen Botschaft gießen weiteres Öl ins Feuer. Ein echter Beweis für eine kubanische Verschwörung fehlt jedoch bis heute.
- Die Mafia: Kennedys Bruder Robert als Justizminister hatte dem organisierten Verbrechen den Kampf angesagt – Mafiabosse wie Sam Giancana oder Carlos Marcello gerieten unter Druck. Gleichzeitig fühlten sich die Gangster vom Vorgehen der Regierung gegen ihre lukrativen Casinos im kommunistischen Kuba geprellt. Jack Rubys Verbindungen ins kriminelle Milieu – er kannte Unterweltgrößen und schmuggelte Waffen – wirkten verdächtig. Es kam die Frage auf: Beseitigte Ruby den Attentäter Oswald, um mafiöse Hintermänner zu decken? Das HSCA fand Anhaltspunkte, dass einzelne Mobster zumindest Motive und Gelegenheit hatten – namentlich wurden Marcello und Santo Trafficante genannt. Organisiertes Verbrechen als Ganzes, so das Komitee, habe aber wohl keine Tatorder erteilt.
- CIA & Hardliner im eigenen Lager: Eine der radikalsten Thesen besagt, Kräfte innerhalb der US-Regierung könnten Kennedy als „Sicherheitsrisiko“ angesehen haben. Kennedy hatte nach der Kuba-Krise begonnen, inoffizielle Friedenskontakte zur Sowjetführung aufzubauen, plante den Rückzug aus Vietnam, entließ CIA-Chef Dulles nach dem Schweinebucht-Debakel. War dies einigen Hardlinern zu viel? Der New Orleans District Attorney Jim Garrison, bekannt aus Oliver Stones Film “JFK“, malte 1967 ein düsteres Bild: Teile von CIA, Militär und Exil-Kubanern hätten sich zusammengetan, um einen unliebsamen Präsidenten zu eliminieren. Bewiesen wurde diese umfassende Verschwörung nie – Garrisons eigener Prozess gegen einen vermeintlichen Mitverschwörer endete mit Freispruch. Doch dass die CIA in den 1960ern reichlich Geheimoperationen mit teils fragwürdigen Gestalten führte, ist inzwischen aktenkundig. Manches wirkte im Rückblick zumindest dubios: So leitete ausgerechnet Ex-CIA-Chef Allen Dulles als Warren-Kommissar die Befragung – der Mann, den Kennedy entlassen hatte.

Blick auf den „Grassy Knoll“ (rechts die weiße Pergola, von der Zapruder den tödlichen Schuss filmte) in Dealey Plaza. Viele Augenzeugen vermuteten hier einen zweiten Schützen – ein zentraler Baustein zahlreicher Verschwörungstheorien.
Enthüllungen und Freigaben: Puzzle-Teile bis 2025
Über sechs Jahrzehnte nach den Schüssen von Dallas ist die Suche nach der ganzen Wahrheit noch immer im Gange. In den 1990ern und 2000ern zwang der öffentliche Druck die Behörden, Millionen Seiten bislang geheimer Akten zu veröffentlichen. Spätestens seit dem JFK Records Act (1992) sollten alle Regierungsdokumente sukzessive freigegeben werden. Präsident Trump verzögerte 2017 zunächst einige Veröffentlichungen, gab dann aber doch hunderttausende Seiten frei. Sein Nachfolger Joe Biden setzte den Prozess fort, bis im März 2025 schließlich alle zurückgehaltenen Unterlagen ohne Schwärzungen publik gemacht wurden. Das National Archives hat nun über 6 Millionen Seiten rund um die Ermordung archiviert.
Die spannende Frage: Kam etwas Bahnbrechendes ans Licht? Ein Smoking Gun – der eindeutige Beweis einer Verschwörung – findet sich bislang nicht. Aber die Puzzleteile fügen sich klarer:
- CIA-Wissen über Oswald: Lange bestritt die CIA jede Verbindung zu Oswald. Doch hartnäckige Forscher wie Jefferson Morley deckten auf, dass Oswald im Sommer 1963 womöglich in ein CIA-Anti-Castro-Manöver hineingeriet. Morley behauptet, Oswald sei Teil einer Operation gewesen, die Castro diskreditieren sollte – eine Art Scheinkonspiration, um einen US-Einmarsch zu rechtfertigen. Die betreffenden CIA-Akten, insbesondere die des Agenten George Joannides, wurden jahrelang zurückgehalten. Erst 2023 gab die CIA Oswalds „201“-Vorgangsakte vollständig frei – sie zeigt detailliert, was die Agency vor dem Attentat über Oswald wusste. Ein CIA-Memo vom 23. November 1963 z.B. enthüllt, dass Oswald in Mexiko-Stadt mit einem KGB-Offizier in Kontakt stand. Auch interne CIA-Kommunikation von 1964 legt nahe, dass Ex-Chef John McCone dem Warren-Team nicht die ganze Wahrheit sagte. Diese Vertuschung von Wissen – ob böswillig oder aus Selbstschutz – heizte nachträglich Zweifel an der Alleintäter-Theorie an.
- Geheimdienst-Pannen: Freigegebene FBI-Dossiers belegen, dass sowohl FBI als auch CIA Oswald auf dem Schirm hatten, aber nicht koordiniert handelten. Oswalds Drohungen gegen den Ex-General Edwin Walker oder seine Kuba-Aktivitäten waren Akten bekannt, wurden aber als nicht akute Gefahr eingestuft. Das neue Material zeigt ferner, wie Behörden Jahrzehnte lang untereinander stritten, was preiszugeben sei. So versuchte die CIA in den 1970ern offenbar, bestimmte Dokumente vor dem HSCA zu verbergen. Das nährt den Verdacht, nicht unbedingt an einer Verschwörung beteiligt gewesen zu sein, aber eigene Fehler kaschiert zu haben.
- Verbindungen von Ruby und Co.: Die Veröffentlichungen beleuchten auch Jack Ruby schärfer. Einiges deutet auf engere Bande zwischen Ruby und dem organisierten Verbrechen hin, als offiziell zugegeben. FBI-Überwachungen legen nahe, dass Ruby in den Tagen vor dem Mord an Oswald in auffälliger Nervosität umhertelefonierte. War es also spontane „Bürgermoral“, wie Ruby vorgab, oder doch ein geplanter silencing act? Gewiss ist: Ruby starb 1967 im Gefängnis an Krebs, ohne umfassend ausgepackt zu haben.
Ein Rätsel ohne Ende?
Trotz tausender Bücher, Dokumentarfilme und nun komplett geöffneter Archive bleiben manche Fragen offen – vielleicht für immer. Die JFK-Ermordung ist mehr als ein Kriminalfall; sie wurde zum kulturellen Phänomen. Für viele Amerikaner symbolisiert sie den Vertrauensbruch zwischen Volk und Staat. Jedes neue Detail – seien es CIA-Memos, KGB-Berichte oder Mafia-Telegramme – wird akribisch untersucht, doch das Gesamtbild bleibt widersprüchlich.
Heute, im Jahr 2025, zeichnet sich eine Art Konsens ab: Oswald hat geschossen und Kennedy getötet – doch war er wirklich nur ein einsamer Spinner? Die meisten Historiker und die offiziellen Befunde sagen Ja, doch eine Mehrheit der Bürger bleibt skeptisch. Denn wo Politik, Geheimdienste und Unterwelt kollidieren, gediehen damals wie heute Verschwörungstheorien.
Vielleicht formulierte es der ehemalige CIA-Direktor Richard Helms am ehrlichsten, als er einst gefragt wurde, ob es in Dallas eine Verschwörung gab: „Wir werden es vermutlich nie erfahren.“ Und so bleibt der Mord an John F. Kennedy ein Stück ungelöster Geschichte – ein amerikanisches Trauma, das weiter fasziniert, mahnt und dazu anhält, Transparenz über politische Gewalt zu verlangen.
📚 Quellen / Sources:
• National Archives – JFK Assassination Records Collection
• Warren-Kommission – Abschlussbericht (PDF)
• House Select Committee on Assassinations – Final Report (1979)
• CIA – JFK Assassination Files (FOIA Reading Room)
• FBI – JFK Assassination Vault
• John F. Kennedy Presidential Library and Museum
• The Sixth Floor Museum – Zapruder Film & Analysis
• Jefferson Morley – JFKFacts.org
• Mary Ferrell Foundation – JFK Document Archive
• AP News – Declassified Files Coverage (2022–2025)